Die nationalsozialistische Propaganda zielte von Anfang an darauf ab, die deutsche „Volksgemeinschaft“ aufzuwerten, sie zu stärken und von den anderen, den „Fremden“ abzuheben. Sie bediente sich dazu einer primitiven rassistischen Ideologie, die ihre Wirkung jedoch nicht verfehlte. Die gleichgeschalteten Medien, auch die lokalen Zeitungen, betonten immer wieder die Wichtigkeit der Rassenhierarchien. Entsprechend wurden die „Fremden“ dargestellt: als minderwertige Menschen, zur bloßen Arbeitskraft reduziert. Man schrieb ihnen gefährliche Eigenschaften zu und schärfte den „Volksgenossen“ einerseits Angst, andererseits Verachtung ein.
Die deutschen BewohnerInnen Hildesheims konnten nicht umhin, die Tausenden von ZwangsarbeiterInnen zur Kenntnis zu nehmen, die in ihrer Stadt eingesetzt wurden und den Alltag wesentlich prägten. Die Begegnungen mit diesen „Fremden“ waren sehr unterschiedlich. Das offensichtliche Unrecht, das den ZwangsarbeiterInnen widerfuhr, war den Deutschen jedoch nur selten bewusst. Die nationalsozialistische Propaganda mit ihrer Herabwürdigung von „Fremdarbeitern“ vor allem aus Osteuropa war äußerst wirksam und setzte sich bei vielen Deutschen dauerhaft fest. In manchen Zeitzeugenberichten klingt das Echo der NS-Ideologie noch nach.

Propaganda

Selbstbewußt muß der Deutsche sein. Auch im Volkstumskampf muß das deutsche Volk Sieger bleiben

Hildesheimer Beobachter, 13.10.1941 Stadtarchiv Hildesheim

Hildesheimer Beobachter, 13.10.1941

„Der Bund Deutscher Osten, Kreisverband Hildesheim […] hielt am Sonntag im Gildenhause eine Versammlung ab. […] Nach den einleitenden Begrüßungsworten […] sprach der stellv. Gauverbandsleiter Pg. Cunow zu dem Thema: In seinen bedeutungsvollen Ausführungen betonte der Vortragende die Notwendigkeit des Volkstumskampfes gegen das Slawentum. Das deutsche Volk stellt heute eine gewaltige Macht dar. Es gilt, eine geschlossene Front gegen alles Undeutsche zu bilden und sich nicht durch Mitleid oder Gutmütigkeit verleiten zu lassen, sondern stets zur Abwehr bereit zu sein. Die Schandtaten an den Deutschen in den ehemals polnischen Gebieten und in den Grenzländern dürfen nicht vergessen werden. Das Vermächtnis der ermordeten Volksdeutschen soll uns immer wieder mahnen, daß der Volkstumskampf auch in der Zukunft zu führen ist. Es darf zu keiner Gemeinschaft, auch nicht etwa aus Mitleid kommen. Der Kennzeichnungszwang ist genau zu beachten, Verstöße sind zu melden. […] Vor allem aber ist die deutsche Familie rein zu halten. Nicht zuletzt bieten auch die russischen Kriegsgefangenen eine große Gefahr. Abstand zu wahren ist auch hier die Pflicht jedes Volksgenossen. Der Volkstumskampf, der nach Beendigung des Krieges von besonderer Bedeutung sein wird, muß zu einem vollen Erfolge für das deutsche Volk werden.“

Hildesheimer Beobachter, 13.10.1941

Um die Ausländer von der deutschen Bevölkerung zu isolieren, wurde ihnen der Besuch von Theatern, Kinos und Gaststätten untersagt. So auch in Hildesheim, wo der Regierungspräsident eine entsprechende Polizeiverordnung erließ. Darüber hinaus verordnete der Bürgermeister von Hildesheim eine besondere Form der Diskriminierung polnischer Zwangsarbeiter: Sie durften zu bestimmten Zeiten die Innenstadt, Parks, städtischen Anlagen und Friedhöfe nicht betreten.

Ausschaltung der Polen aus dem Straßenverkehr
Besuch kultureller Veranstaltungen verboten / Freihaltung von Hauptstraßen und städtischen Anlagen

Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 6. November 1941, Stadtarchiv Hildesheim

Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 6. November 1941

„Hierzu erläßt der Oberbürgermeister von Hildesheim noch eine ergänzende Bekanntmachung, wonach den polnischen Zivilarbeitern in Hildesheim das Begehen des Hauptstraßenzuges Bernwardstraße – Almsstraße – Hoher Weg – Altpetristraße wochentags von 17 bis 21 Uhr verboten ist. An Sonn- und Feiertagen dürfen sie diese Straßen während des ganzen Tages nicht betreten. Außerdem ist es den Polen verboten, sich in der Hauptverkehrszeit von 12 bis 21 Uhr in den nachfolgenden städtischen Anlagen aufzuhalten: Liebesgrund, Schneidlerscher Graben, Hagentorwall, Langelinien-Wall, Große Venedig, Johannisfriedhof, Ernst-Ehrlicher-Park, Tannengrund, Kehrwiederwall, Lönsbruch, Anlage am Großen Saatner, Sedanstraße, in den Anlagen am Galgenberg, im Berghölzchen, im Steinberg und im Hildesheimer Wald sowie im Zentralfriedhof und in sämtlichen Dauer- und Kleingartenanlagen.
Der verstärkte Einsatz polnischer Zivilarbeiter und -arbeiterinnen hat diese beiden Anordnungen, wovon sich jeder gewiß schon einmal hat überzeugen können, dringend notwendig gemacht, so daß sie von der Bevölkerung nur lebhaft begrüßt werden. Eine strenge Scheidung zwischen allem, was deutsch und was polnisch ist, ist nach den Vorkommnissen, die uns erst jetzt wieder der in Hildesheim laufende Film „Heimkehr“* in erschütternden Bildern zeigt, eine zwingende Notwendigkeit!“

Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 6.11.1941

* „Heimkehr“ ist ein deutscher antipolnischer Propagandafilm von Gustav Ucicky aus dem Jahr 1941 und schildert angebliche Gewalttätigkeiten gegen die deutsche Minderheit in Polen.

Nach dem verheerenden Luftangriff auf Hildesheim am 22. März 1945 wurden vor allem Zwangsarbeiter öffentlich beschuldigt, geplündert zu haben, und in vielen Fällen hingerichtet.

Plünderer müssen sterben

Hildesheimer Zeitung, 27. 03.1945, Stadtarchiv Hildesheim, Best. 500-08 Jg. 1945

Hildesheimer Zeitung, 27. 03.1945, Stadtarchiv Hildesheim, Best. 500-08 Jg. 1945

„Es ist oft genug und deutlich genug darauf aufmerksam gemacht worden: auf Plünderung steht Todesstrafe! Trotzdem sind bei einer in der vergangenen Nacht unternommenen Polizeistreife durch die Räume der zerstörten Innenstadt mehrere Plünderer gefasst worden. Vier von ihnen, Ausländer, wurden sofort durch Feststellung des Tatbestandes (sie hatten das geplünderte Gut noch bei sich) durch Erhängen hingerichtet. Einer, leider ein Deutscher, wurde bei dem Versuch, zu fliehen, erschossen.“

Hildesheimer Zeitung, 27.03.1945, Stadtarchiv Hildesheim, Best. 500-08 Jg. 1945

Zwei ehemalige Bosch-Mitarbeiter erinnern sich

Karl Josef Fricke: Die Polen allgemein waren wenig kooperativ

Die Polen allgemein waren wenig kooperativ. Es kam oft zu lautstarken Protesten am Arbeitsplatz. Bei den deutschen Werksangehörigen hatten sie keinen guten Ruf. Nach dem Krieg, die Polen konnten erst ein bis zwei Jahre nach Kriegsende repatriiert werden, machten vagabundierende Polen fast ungehindert Beutezüge in Hildesheim und Umgebung. Ausgangspunkt dieser Übergriffe war das Barackenlager vor dem TRILLKE-Werk.
Etwas zeitversetzt zu den Polen werden die ersten Russen im Werk eingesetzt. Es sind dies fast ausschließlich Ukrainerinnen und Ukrainer. Auch sie sind durch ein quadratisches Stoffstückchen mit eingewebten
[sic!] „OST“ gekennzeichnet. Wegen ihrer bereitwilligen, ordentlichen, ja gewissenhaften Arbeit, sind ihre Arbeitsplätze in allen Bereichen des Werkes zu finden. […] Bei Arbeiten, die Kraft und Genauigkeit erforderten, wie in der Ankerschleiferei, waren die Ukrainerinnen erstklassig. Kurzum, sie sind an allen Arbeitsplätzen eingesetzt. Dieses recht positiv klingende Urteil wird auch hier durch einige Querulanten relativiert. Mir war aufgefallen, dass die Arbeiter aus der Ukraine durchweg einen hellblonden bis blonden Typus hatten, ganz im Gegensatz zur Nazi-Rassen-Propaganda. Gut gewachsen, kräftig und gesund entsprachen sie eher den damals sogenannten arischen Rassenmerkmalen.

K.J. Fricke, Einblicke in die Geschichte des Bosch-Standortes Hildesheim, Vortrag für die Belegschaft von Bosch Hildesheim, 17.10.2013, S. 8 f.

Karl Josef Fricke, geb. 1926, war während des Zweiten Weltkrieges Lehrling bei ELFI/Trillke. Er hat lange in der Archivgruppe des Hildesheimer Bosch-Werkes mitgearbeitet und ist deren wichtigster Zeitzeuge.
Bernhard Küster, seit 2016 Sprecher der Archivgruppe und Referent für das Seminar über die Werksentstehungsgeschichte, hat uns im Februar 2022 mitgeteilt, „dass der Zeitzeuge Karl Josef Fricke sein Manuskript 2015 insofern ergänzt hat, dass die verständliche Haltung der Polen als Patriotismus zu sehen ist.“
Hier die Manuskript-Version von 2016:
Aus meiner Sicht kann ich die Arbeitsdisziplin der „OST“-Arbeiter positiv bewerten, wo hingegen einige Polen bei der Arbeitsdisziplin durch Dispute und konträre Einstellungen auffällig waren. Die Polen waren damit die einzigen, die mit ihrem aus Nachkriegssicht patriotischen Verhalten ihre negative Einstellung zum NS-Regime zeigten.

Auch Hubertus Pagany, geb. 1927, lernte während des Krieges bei Bosch in Hildesheim. 2016 hat er vor der Kamera über diese Zeit berichtet.

Hubertus Pagany: Sie waren in meinem Alter

 

Karl Josef Fricke: Fremdarbeiter hatten einen anderen Status als Zwangsarbeiter

Die Fremdarbeiter hatten einen anderen Status als die Zwangsarbeiter. Sie bekamen Lebensmittelkarten, Bezugscheine für Textilien usw. Sie wohnten bei Bürgern in der Stadt zur Untermiete oder in von TRILLKE bereitgestellten Hotelzimmern und in Gaststätten. Ihre Bewegungsfreiheit war auf den Wohnort und die Umgebung beschränkt. Mit einem Sonderausweis und Genehmigung der Werkleitung konnten sie in ihre Heimat in den Urlaub fahren. Ihre Entlohnung entsprach der der deutschen Mitarbeiter.

K.J. Fricke, Einblicke in die Geschichte des Bosch-Standortes Hildesheim. Vortrag für die Belegschaft von Bosch Hildesheim, 17.10.2013, S. 9

Hubertus Pagany: Zwangsarbeiter – das hört sich so brutal an

Zwangsarbeiter – das hört sich so brutal an. Sicherlich waren zumindest die russischen Mitarbeiter damals […] – die hatten ihr Schild hier dran, stand groß OST drauf –, die hat man zwangsweise hier ins Reich gebracht. Auch ein Teil der Polen sind zwangsweise hierher gebracht worden zum Arbeiten, denn die deutschen Männer waren alle an der Front, also brauchte man entsprechend auch Arbeiter. Und teilweise sind junge Leute dabei gewesen, die hatten so mein Alter, sie waren 16, 17, 18.

Hubertus Pagany im Gespräch mit Angela Martin am 8. Juni 2016 in Hildesheim

Tatsächlich kamen vor allem in den ersten Kriegsjahren viele AusländerInnen freiwillig nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Doch spätestens 1942 wurden auch ihre Arbeitsverhältnisse zu Zwangsverhältnissen: Sie erhielten keinen Urlaub mehr, durften nicht kündigen und ihre Arbeitsstelle nicht wechseln; die Arbeitszeit wurde immer länger, die Versorgung immer schlechter. Doch es gab kein Zurück in die Heimat.

Karl Josef Fricke: Spendensammlung für die Zwangsarbeiter

Mit stillschweigender Genehmigung der Werkleitung hat Ende 1943 eine Gruppe deutscher Arbeiter zu einer Kleider- und Schuhspende für die Zwangsarbeiter aufgerufen und durchgeführt. Trotz der schwierigen Kriegsverhältnisse erzielte die Sammlung ein gutes Ergebnis. Die Partei jedoch hatte absolut kein Verständnis für diese Aktion. Mit viel Mühe und Geschick konnte die Werkleitung einen Eklat oder gar Schlimmeres verhindern.

K.J. Fricke, Einblicke in die Geschichte des Bosch-Standortes Hildesheim, Vortrag für die Belegschaft von Bosch Hildesheim, 17.10.2013, S. 9

Hubertus Pagany: Dass etwas gesammelt wurde, ist mir nicht bekannt

Zu den Sachen, die den Ausländern und Gefangenen sozusagen zugesteckt wurden, kann ich nur so viel sagen, dass es Deutsche gab, die mit diesen armen Kreaturen Mitleid hatten und ihnen Sachen zum Anziehen oder zum Essen heimlich zugesteckt haben. Das geschah auf folgende Weise: Es wurde irgendwo, an einer den Beteiligten bekannten Stelle, etwas abgelegt und über ein Zeichen angedeutet, geh da mal vorbei und hol etwas ab. Dass etwas gesammelt wurde oder ähnliches gemacht wurde, um den Menschen zu helfen, ist mir nicht bekannt. Es gab ja immer Streber, die nach dem Motto handelten, „Herr Lehrer, ich weiß was …“, nur um sich bei ihrem Chef lieb Kind zu machen, und vor denen musste man Angst haben, dass sie einen verraten hätten.
Ich persönlich hatte es da etwas einfacher: Auf Grund meines damaligen Berufes als Elektriker hatte ich keinen festen Arbeitsplatz in der Halle, in der es meine Aufgabe war, die elektrischen Maschinen am Laufen zu halten. Meine Lösung, meinen fremden Mitarbeitern etwas zukommen zu lassen, bestand darin: Im Keller, wo die Kleiderspinde standen, hatte ich neben meinen Spind noch einen zweiten für elektr. „Sondermaterial!!!“. Das war unter Verschluss. Den Schlüssel zu dem Schrank bekam dann hin und wieder auch jemand anderes, um dort etwas zu holen. So, und ich meine nur so, gab es die Möglichkeit, etwas zu machen.

Hubertus Pagany, Mail an Angela Martin vom 9. Januar 2017

ZwangsarbeiterInnen im Leben der Hildesheimer Bevölkerung

Franz-Josef Oelkers: Das Beschäftigungsverbot

Seit 1942 arbeiteten bei meinem Vater zwei Ukrainer, die im Reich dienstverpflichtet waren, Johan 18 und Michel 24 Jahre. Sie konnten anfangs kein Wort Deutsch, lernten aber schnell, sich zu verständigen. Im Winter 43/44 kamen sie zu meinem Vater und zeigten ihm ihr Essen, das sie in einer Großküche für Fremdarbeiter bekamen. Eine Wassersuppe mit ein paar Kartoffelstückchen. „Bei dem Essen könnt ihr nicht arbeiten“, sagte er, „gebt mir eure Essensmarken und esst mit uns.“ Von da an aßen sie mit uns das gleiche Essen. So gut und schlecht, wie es im Kriege war. Im Mai 1944 brachten sie Frau B., einer Lehrerin in der Brauhausstraße 40a, Kohlen. Sie wurden gefragt, ob sie es gut hätten bei meinem Vater. Die beiden antworteten arglos: „Ja, Chef gut. Gibt uns Essen, in Stadt Essen schlecht.“
Die Frau hielt es für ihre nationalsozialistische Pflicht, meinen Vater anzuzeigen. Kurz darauf erhielt er ein Schreiben der NSDAP. Es lautete: „Aus sicherheitspolitischen Gründen dürfen Sie ab sofort keine Fremdarbeiter mehr beschäftigen. Die bei Ihnen Beschäftigten haben sich sofort bei der Behörde zu melden.“ Er hatte nun keine Arbeiter mehr. Edmund Gieseke von der Dingworthstraße, der schon fast 70 Jahre alt war und bis zur Rente bei meinem Vater gefahren war, erklärte sich auf seine Bitte bereit, ihm zu helfen.

Franz-Josef Oelkers, Das Beschäftigungsverbot, in: Hildesheim. Sturzflug durch die Vierziger, hrg. v. Sabine Brand, 2. verbesserte Auflage, Hildesheim 2010, S. 152

Horst Hirschler: Bei uns hießen sie nur „Polacken“ und „Ruskis“

Hinten, Richtung Sorsum, war ein Barackenlager für die Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen gebaut worden. Bei uns hießen sie nur „Polacken“ und „Ruskis“. Abends nach der Arbeit wurden sie in einer langen Kolonne zu ihren Baracken geführt. Wachleute mit Karabinern waren dabei. Der Vater hatte Streit angefangen mit unserem Nachbarn [Betriebstischlermeister]. Der schien die Arbeiter und Arbeiterinnen aus Polen und Russland, wenn ihm etwas nicht passte, zu treten. Der Vater war zornig darüber. […]
Als die Kriegsgefangenen unsere Straße in Ordnung bringen mussten, sind wir natürlich dabei herum gestanden. Die Badoglios, d.h. die Italiener, die sich den Amerikanern angeschlossen hatten, waren genauso nett wie die mit uns verbündeten Italiener, die drei Jahre zuvor als Gastarbeiter Anfang des Krieges im Werk gearbeitet hatten. Nur wurden sie schlechter behandelt, bekamen offensichtlich weniger zu essen. Wir tauschten mit ihnen ihre schönen Aluminiumsterne gegen Brot ein.
Eine Sonderklasse waren die indischen Gefangenen aus der englischen Armee. Wir hatten ein großes Lager oberhalb des Feuerbacher Weges. Wenn sie ausmarschierten in Dreierreihen mit ihren Turbanen und den schönen Khakiuniformen, die Hosen immer tadellos mit Bügelfalten – es hieß, sie schliefen darauf –, standen wir am Straßenrand. Sie wirkten irgendwie vornehm, selbst wenn sie Dreckarbeit machen mussten. Die „Polacken“ und „Ruskis“ – wie wir sagten – waren nicht so angesehen. Sie wurden abends in einer langen Kolonne aus dem Werk ins Lager geführt. Als 1944 die Kastanien von den Bäumen fielen, bin ich mit zwei anderen auf einen dieser Kastanienbäume geklettert und habe, als die unter uns hindurchgingen, mit den aufgesammelten Kastanien auf die Köpfe geworfen. Fanden wir toll.

Horst Hirschler, Eine Jugend im Hildesheimer Wald, hrsg. vom Kirchenvorstand der ev.-luth. Kirchengemeinde Marienrode, 2011, S. 7, S. 22 f.

Horst Hirschler, geb. 1933 in Stuttgart, zog 1940 mit seinen Eltern und dem Bruder nach Hildesheim, die Familie wohnte in einem Zweifamilienhaus gegenüber dem Werkseingang von ELFI/Trillke. Von 1951 bis 1954 machte Hirschler eine Lehre als Elektriker bei Bosch in Hildesheim; dann schlug er eine Laufbahn als Theologe ein. 1988 bis 1999 war er Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Seit 2000 leitet er das Kloster Loccum.

Hans Teich: „Brauchen Sie den Jungen auf“

So bekam der Kohlenhändler Josef Steingräber aus Neuhof für seine Arbeit, das Tragen schwerer Kohlensäcke, einen unterernährten, vierzehnjährigen russischen Jungen vom Arbeitsamt zugewiesen. Steingräber war kein Nazi, sondern ein rechtschaffener Katholik, der im Ort Ansehen genoss. Er erhob beim Arbeitsamt Einwände und machte geltend, dass der Junge den Anforderungen, die sein Geschäft mit sich brachte, nicht gewachsen war. Die Antwort des Arbeitsamtes, Steingräber hat sie einigen vertrauten Kunden weitererzählt: „Brauchen Sie den Jungen auf. Wenn er fertig ist, kriegen Sie einen neuen.“ Steingräber handelte als Mensch und fütterte ihn stattdessen raus, so gut er konnte. Schließlich musste er den Jungen wieder abgeben.
Mit Beginn des Krieges wurden die Hauptnahrungsmittel noch umfassender rationiert, und je länger der Krieg dauerte, desto kleiner wurden die Rationen. Ganze Schwärme von Frauen und Kindern zogen auf die Felder und suchten Ähren oder in den Wäldern Bucheckern zusammen, die gegen etwas Öl eingetauscht wurden. Aber trotz größter Knappheit wanderte manches Stück Brot, manch Tüte Kartoffeln, ja auch Selbstgeschlachtetes, manches Kleidungsstück in die Hände russischer und polnischer Zwangsarbeiter.

Hans Teich, Hildesheim und seine Antifaschisten, Hildesheim 1979, S. 70

Hans Teich (1904–1975) war ein kommunistischer Arbeiterfunktionär und Verfolgter des Naziregimes. Nach Kriegsende war er mehrere Jahre Betriebsratsvorsitzender bei Bosch bzw. Blaupunkt in Hildesheim.

Bärbel Rehberg: Die ausgemergelten Gestalten sind mir noch heute im Gedächtnis

Hinter der Alfelder Straße befand sich ein weites Hochwasserbett. Dort wurden während des Krieges von italienischen Gefangenen für uns Bunker gebaut. Es waren überwiegend fast noch Kinder. Nichts an und nichts am Leibe, mussten sie die schweren Betonkarren über die Holzplanken schieben, gehetzt und schikaniert von den deutschen Aufsehern. Die ausgemergelten Gestalten sind mir noch heute im Gedächtnis. Viele von uns empfanden Mitleid und hätten gern von dem wenigen, was wir selbst hatten, noch abgegeben, doch beim Entdecken einer solchen Tat hätte uns das KZ gedroht. So musste meine Mutter, wenn sie z.B. Puffer in ihrem Bucheckernöl backte, immer äußerste Vorsicht walten lassen, wenn sie einen Teller versteckte. Aber hungrige Augen verfolgten sie und in einem günstigen Moment verschwand alles ganz schnell in den ausgehungerten Mägen. So ging das einige Wochen lang, mal etwas Brot oder auch mal Obst. Hin und wieder folgten auch einige Nachbarn klopfenden Herzens und zitternd ihrem Beispiel.

Bärbel Rehberg, in: Klaus Schäfer, Zwangsarbeit in der Region Hildesheim 1941–1954, Geschichtswerkstatt Hildesheim, Hildesheim 2005; Vernetztes Erinnern (12.07.2017)

Kriegsende und Befreiung

Am 22. März 1945 warfen mehr als 250 Bomber der Royal Air Force und der Kanadischen Luftstreitkräfte insgesamt 439 Tonnen Sprengbomben und 624 Tonnen Brandbomben auf die historische Altstadt Hildesheims ab. 75 Prozent aller Gebäude wurden zerstört oder beschädigt; 824 Menschen kamen ums Leben. Insgesamt wurden 1 645 Menschen Opfer des Luftkrieges in Hildesheim, 103 von ihnen wurden als AusländerInnen identifiziert.

Vgl. Hans-Dieter Schmid, Hildesheim in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Stadt zwischen Angst und Anpassung (Veröffentlichungen des Hildesheimer Heimat- und Geschichtsvereins e.V., Bd. 2), Hildesheim 2015, S. 128

Privatarchiv Wilhelm Prinz jr.

Foto: Wilhelm Prinz, Privatarchiv Wilhelm Prinz

Drei Zwangsarbeiter im Vorderen Brühl, 25. März 1945. Auch viele ZwangsarbeiterInnen waren ausgebombt.

Foto: Wilhelm Prinz, Privatarchiv Wilhelm Prinz jr.

Nach dem großen Bombenangriff war die Lebensmittelversorgung in Hildesheim katastrophal. Das NS-Regime verstärkte den Kampf gegen „Plünderer“, der jedoch schon vorher begonnen hatte. Überall in der Stadt wurden Plakate angeschlagen, auf denen in zehn Sprachen der Satz „Wer plündert, wird mit dem Tode bestraft“ stand.

Horst Hirschler: Plünderungen

Als wir an einem Nachmittag am Rathaus vorbei liefen, sahen wir, dass man fünf – wie auf einem Schild zu lesen war – Plünderer, die angeblich auf frischer Tat erwischt worden waren, an einer Art Gerüst gehenkt hatte. Es sah schrecklich aus. Wir liefen schnell weiter. Es sah aus, als seien es alles Zwangsarbeiter. Die roten Plakate, die überall Plünderern die Todesstrafe androhten, waren unübersehbar. […] Die Ehrlichkeit begann auf der Strecke zu bleiben. Aus der zerstörten Zuckerraffinerie in Hildesheim stahlen die Männer sich in Säcken oder Pappkartons den braunen Rohrzucker. Die Fußböden der O-Busse waren ganz klebrig, weil das Zeug feucht war und tropfte.
Wir hatten keinen Vater mehr, der uns etwas hätte holen können. Da brachten Freunde zwei große halb durchnässte Kartons voll braunen Zuckers. Es war zwar nicht recht, aber die Männer sagten, es läge da nur rum und sei auch nicht so richtig verboten, aber es sei vorsichtshalber doch besser, die großen Haufen braunen Zuckers nur nachts bei Taschenlampenlicht zu dezimieren.

Horst Hirschler, Eine Jugend im Hildesheimer Wald, hrsg. vom Kirchenvorstand der ev.-luth. Kirchengemeinde Marienrode, 2011, S. 7, S. 26f.

Die bevorstehende Niederlage führte zu beispielloser Brutalität gegenüber Ausländern. Die Gestapo machte regelrecht Jagd auf angebliche Plünderer. Am 26. und 27. März wurden auf dem Marktplatz 30 bis 50 Zwangsarbeiter gehenkt, die angeblich Lebensmittel gestohlen hatten. Drei weitere Massenexekutionen fanden im Polizei-Ersatzgefängnis auf dem Zentralfriedhof statt, wo die Gestapo sämtliche Gefangenen hinrichtete. Insgesamt wurden in Hildesheim in den letzten Kriegstagen 209 Menschen umgebracht. Erst der Einmarsch der US-Armee am 7. April 1945 setzte dem Morden ein Ende.

Vgl. Markus Roloff, Nur Plünderer mußten sterben? Die Massenhinrichtungen der Hildesheimer Gestapo in der Endphase des Zweiten Weltkrieges, in: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim, Bd. 69, 1997, S. 182–220

Horst Hirschler: Ein reiner Hexenkessel

Wir konnten […] aus unseren beiden 1.-Etage-Fenstern nicht nur die Straße sehr gut überschauen. Rechts drüben jenseits der Straße war auch das Zwangsarbeiterlager sehr gut einzusehen. Das war ein reiner Hexenkessel.
Die schrien und tobten vor Freude, dass die Amerikaner da waren. Wir konnten nicht zwischen Polen- und Russenlager unterscheiden. Aber alles war voll von jubelnden Männern und Frauen. Plötzlich wurde uns klar: Für uns war das die Niederlage, für die war es die Befreiung. […]
Die Fahrzeuge der Amerikaner standen jetzt in großer Menge nahe zusammen auf der Straße. […] Wir sahen zu unserem Entsetzen, dass dazwischen Neger waren, schwarze, bräunliche auch. Langsam wurde es dunkel. Drüben im Lager brannten Feuer. In dieser Nacht hätten wir eigentlich voller Angst sein müssen angesichts dieses brodelnden Zwangsarbeiterlagers nebenan. Sicherlich, sie waren bei Bosch nicht ganz so schlecht behandelt worden. Dennoch, jetzt waren wir doch wehrlos. […]
Als wir dann morgens gegen sieben Uhr aus dem Fenster schauten, war die Straße frei von Militärfahrzeugen, und aus Richtung Werkseingang kam, von Pferden im Trab gezogen, die Milchkutsche aus Marienrode, mit Säcken beladen, und wurde unter großem Gejohle ins Lager gelenkt. Da hatten sie also geplündert.

Horst Hirschler, Eine Jugend im Hildesheimer Wald, hrsg. vom Kirchenvorstand der ev.-luth. Kirchengemeinde Marienrode, 2011, S. 30 ff.

Brief an Eduard: Es war eine Schande, wie dieses heruntergekommene Pack gehaust hat

Privatarchiv Gudrun Hollemann

Privatarchiv Gudrun Hollemann, Hildesheim

Es hat sich also tatsächlich das bewahrheitet, was wir immer befürchtet haben, dass wenn der Krieg für uns unglücklich ausgeht, es uns durch die ausländ. Elemente ganz dreckig ergehen kann, wenn wir keinen Schutz bekommen. Dass wir aber so schutzlos dem Verbrechertum preisgegeben wurden, hätten wir aber doch nicht gedacht, aber unsere Polizei rückte aus, wie die Amerikaner einzogen, und hat uns diesen Horden überlassen. Es war eine Schmach und Schande, wie dieses heruntergekommene Pack in der Stadt und auf dem Lande gehaust hat. In jeden Keller der Bombenbeschädigten sind sie eingedrungen und haben ungestört das geraubt und geplündert, was den armen Menschen noch von ihren liebgewonnenen Sachen verblieben ist. Jetzt ist zwar die Polizei wieder da, muss aber selbst zugeben, wie völlig machtlos sie geworden ist. Es ist himmelschreiend und man kann die Wut kriegen, wenn man mit ansehen muss, was dieses Gesindel alles hinwegschleppt. Kein Fahrrad ist sicher, selbst am helllichten Tage werden Frauen vom Rade herunter gerissen und sind es für immer los. Auch mein schönes Rad, das eigentlich Alfred gehörte, wurde auf eine äußerst freche Art und Weise geklaut. […] Ganze Ausweichläger hiesiger Firmen wurden restlos geplündert, so z.B. der Fa. Gebr. Multhaupt nicht weniger wie 30.000 Paar Schuhe, so dass ich dort nichts erhalten konnte, wie ich die Fa. darum aufsuchte, weil ich durch Feuer und Raub äußerst knapp mit Kleidung bestellt bin, während das Pack, das früher fast in Lumpen ging, heute elegant daher kommt und sich ungemein aufdringlich und selbstherrlich benimmt. Um allem noch die Krone aufzusetzen, hat der Regierungspräsident auf höhere Weisung hin bestimmt, dass die Ausländer von nun ab besondere Vergünstigungen vor uns genießen sollen. Besonders was Essen und Arbeiten anbelangt. Während alle verfügbaren Männer und Frauen die Straßen von Schutt und Dreck zu reinigen haben, stehen diese Nutznießer dabei und haben die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Autor unbekannt, Privatarchiv Gudrun Hollemann, Hildesheim

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